Erneute Kritik an der Rechtsprechung des Bundesgerichts im Sinne des Mehrheitsmissbrauchs im schweizerischen Aktienrecht

Unseren letzten Blog-Beitrag vom vergangenen März widmeten wir einem neueren Bundesgerichtsurteil vom 20. Februar 2018, das unter der Referenz 4A_531/2017 veröffentlicht worden war. Unser oberster Gerichtshof liess sich nämlich im Stadium der vorsorglichen Massnahmen dazu verleiten, der Beschwerde von Minderheitsaktionären stattzugeben, die sich einer absolut rechtmässig und nach den Statuten einer Aktiengesellschaft von ihren Mehrheitsaktionären beschlossenen Kapitalerhöhung widersetzt hatten. Wir verurteilten damals diese Rechtsprechung und möchten an dieser Stelle die damals an sie gerichteten Vorwürfe wiederholen und etwas ausführlicher erläutern.


Unsere praktische Erfahrung mit dem Gesellschaftsrecht zeigt uns nämlich, dass dieser Entscheid inzwischen oft von Minderheitsaktionären angeführt wird, um sich ordentlich gefällten Mehrheitsbeschlüssen einer Generalversammlung zu widersetzen.


Wir vertreten die Ansicht, dass man von dieser Rechtsprechung Abstand nehmen oder sie zumindest mit grösster Vorsicht anwenden sollte, denn sie ist vor allem aus folgenden zwei Gründen gefährlich und schädlich:


  1. Gestützt auf Art. 162 HRegV ist es für jeden Aktionär äusserst einfach, sich gegen die Eintragung einer Generalversammlung im Handelsregister zu wehren. Dem Handelsregisterführer ist nämlich nur nachzuweisen, dass beim zuständigen Gericht um vorsorgliche Massnahmen ersucht wurde, ohne dass dafür eine Begründung erforderlich wäre. Die Registersperre erfolgt sehr schnell. Stützt sie sich auf die oben genannte Rechtsprechung, besteht Gefahr, dass ein für die Gesellschaft wichtiger Beschluss wochenlang gesperrt wird, obwohl er von der Mehrheit ihrer Aktionäre ordentlich gefasst wurde.
  2. Die Anwendung von Art. 162 HRegV ist ausgesprochen schädlich, weil sie in der Praxis darauf hinausläuft, dass der Richter der vorsorglichen Massnahmen zum Richter in der Sache selbst wird. An einer Fortsetzung des Verfahrens zur Hauptsache bis zu seinem Abschluss besteht kein Interesse, denn es ist lang und kann sogar die Zukunft der Gesellschaft gefährden. In diesem Fall greifen die vorsorglichen Massnahmen notgedrungen der Sache vor. Unserer Ansicht nach dürfen sie allein schon aus diesem Grund nicht erlassen werden.
  3. Vorsorgliche Massnahmen werden im Stadium der Glaubhaftigkeit beschlossen. Der Gesuchsteller kann sich somit damit begnügen, seine Ansprüche glaubhaft zu machen, ohne Beweise zur Sache vorzubringen. Über einen Rechtsmissbrauch allein im Stadium der Glaubhaftigkeit zu befinden, ist unsinnig, denn ein Rechtsmissbrauch kann nur anhand sämtlicher Umstände des konkreten Falles angemessen beurteilt werden, das heisst mit Zurückhaltung und Umsicht und dementsprechend nur im Rahmen eines Verfahrens zur Hauptsache.
  4. Das Bundesgericht und die kantonalen Gerichte unterlassen es seit jeher, sich in die internen Angelegenheiten der Aktiengesellschaft einzumischen. So werden nach ständiger Rechtsprechung die Sonderprüfung gemäss Art. 697a ff. OR sowie die Ernennung eines Sachwalters im Sinne von Art. 731b OR oder die Auflösung der Gesellschaft aus wichtigem Grund gemäss Art. 736 OR zu Recht nur als ultima ratio anzuwendender letzter Ausweg angesehen. Gestützt auf diese neue Rechtsprechung befasst sich das Gericht nun aber mit den Angelegenheiten der Gesellschaft. Es wird entscheiden, ob diese ihren Zweck auf einem anderen Weg erreichen konnte oder nicht. Es wird ihr sagen, wie sie sich zu verhalten hat. Dies ist aber ohne Zweifel nicht die Aufgabe des Richters.
  5. Sollte diese Rechtsprechung Allgemeingültigkeit erlangen, könnte sie die Investitionen von Mehrheitsaktionären im Aktienrecht massgeblich bremsen. Denn wer möchte noch investieren und eine Aktienmehrheit übernehmen, wenn ein Mehrheitsaktionär jederzeit befürchten muss, dass die Beschlüsse der von ihm kontrollierten Generalversammlung von Minderheiten abgeblockt werden, selbst wenn sie gesetzes- und statutenkonform gefasst wurden? Die Minderheitsaktionäre würden dann anschliessend aus dem Rückzug ihres Ersuchens um vorsorgliche Massnahmen Kapital schlagen, um sich eine Position zu sichern, die sie durch geschäftliche Verhandlung allein nie hätten erreichen können.


Aus all diesen Gründen ist es wichtig, dass die aufgrund dieser neuen Rechtsprechung angerufenen kantonalen Gerichte diese zurückhaltend anwenden und dass sie die Anwendung des Rechts nicht mit der Verteidigung des kleinen Däumlings vor dem Menschenfresser verwechseln.


Wichtig ist auch, dass der Gesetzgeber im Rahmen seiner endlosen und fast unablässigen Reform des Aktienrechts seine Schlüsse daraus zieht und dieser Rechtsprechung, die wir als äusserst schädlich erachten, nicht länger Vorschub leis

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Christophe Wilhelm

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